Wer lange im Beruf ist hat schon viele Situationen gemeistert und kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Neue Situationen können deshalb in Windeseile erfasst und interpretiert werden. Quasi sofort kann eine Reaktion auf jede Anforderung erfolgen.

Diese Interpretation nimmt das Gehirn in atemberaubender Geschwindigkeit vor. Das geht ganz automatisch. Die anschließende Reaktionszeit, um ins Handeln zu kommen, ist folglich gering. Macht diese Kompetenz die Berufserfahrenen deshalb wertvoller als Berufseinsteiger?

Dieser Denkprozess braucht bei Berufsanfängern deutlich länger. Sie schauen sich die Auffassungsgabe und Reaktionsgeschwindigkeit der erfahrenen Kollegen oft fasziniert, vielleicht auch verunsichert, an. Bei ihnen funktioniert dieses System nämlich noch nicht. Sie benötigen Zeit, sie müssen überlegen, um eine Situation einschätzen zu können. Sie müssen theoretisch erlernte Möglichkeiten abwägen, um für die vorliegende Situation eine passende Erklärung zu finden. Erst danach beginnen sie, eine Handlungsstrategie auszuarbeiten. Das dauert Zeit, die oftmals von Vorgesetzten als lästig oder teuer bewertet wird. Das verunsichert junge Kollegen. Zu unrecht, wie wir sehen werden. Denn die Zeit, die sich Berufsanfänger nehmen müssen, ist auch bei Berufserfahrenen gut investiert. Besonders dann, wenn die beruflichen Anforderungen komplex sind. Berufserfahrung ist zwar wichtig. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um beruflichen Erfolg zu haben.

 

„Ist eine schnelle Interpretation der Situation, die auf Basis von Erfahrungen gemacht wird, zwangsläufig richtig?“

Die Antwort auf diese Frage hat der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann erforscht. In seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (2011), zeigt er, warum eine schnelle Analyse mit der Realität nicht unbedingt übereinstimmen muss. Das schnelle Denken, also die schnelle Interpretation, zeigt uns nämlich nur die für uns wahrscheinlichste Lösung für die vorliegende Situation. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus unserer persönlichen Erfahrung. Dazu gehört die Berufserfahrung. Einfluss nehmen aber auch Eindrücke und Gedanken, die aus unserem aktuellen Tagesgeschehen stammen und möglicherweise nicht unbedingt etwas mit der Arbeitssituation zu tun haben müssen.

Verbringen wir die Mittagspause gern auf einer ruhigen, sonnenbeschienen Parkbank, so werden wir das Wort „Bank“ eher mit der gemütlichen Situation auf dieser Ruhebank assoziieren. Benötigen wir jedoch dringend Bargeld, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass wir den Begriff „Bank“, der im beruflichen Kontext benutzt wird, gedanklich mit dem Geldautomaten in Verbindung bringen. Wir assoziieren also das Geldinstitut und nicht die Parkbank.

Es ist also zu erwarten, dass eine Situation dann falsch eingeschätzt wird, wenn sie uns bekannt vorkommt, obwohl sie tatsächlich neu ist, nur selten erlebt wurde, oder wenn ein unerwarteter Kontext vorliegt. Dann spielt uns das eigene Gehirn einen Streich und führt uns auf die falsche Fährte. Je mehr Erfahrung vorliegt, desto höher ist die Gefahr, dass Fehlinterpretationen der Situation entstehen.

 

Tücken der Berufserfahrung

„Das hat so immer funktioniert“, oder „es kann nur diese Ursache sein“ sind typische und tückische Reaktionen des erfahrenen Könners. Daraus entsteht eine schnelle Reaktion mit eingeübten Handlungsabläufen. Das Problem wird einer schnellen Lösung zugeführt. Das Ergebnis kann fatal sein. Das Ergebnis des schnellen Denkens ist ein sogenannter Fixierungsfehler.

Schnelles Denken und schnelles Handeln ist nur in solchen Situationen angezeigt, in denen die Situation tatsächlich eine routinierte Handlung erfordert und Fehlinterpretationen keine schwerwiegenden Konsequenzen haben – Fehler also keinen gravierenden Schaden anrichten.

 

Fehlervermeidung

Wie kann man solche Fehler im Beruf vermeiden? Das ist einfacher gesagt, als in der Realität umgesetzt. Denn das schnelle Denken beherrscht unser Leben. Es ist automatisch aktiv. Wir können es nur ausschalten, wenn wir bewusst einen anderen Denkansatz wählen.

Das erfordert Energie. Es lohnt sich aber, denn es schützt gerade die Berufserfahrenen vor Misserfolg.

Der Erfahrene kann sich an der Langsamkeit und den Denkschritten des Berufneulings orientieren. Bewusst dessen langsames und gründliches Denkmuster einzusetzen, das Schritt für Schritt die richtige Interpretation der Situation erarbeitet, um daraus im Anschluss die notwendigen Handlungsschritte zu entwickeln, ist der Schlüssel zum Erfolg. Dieses langsame Denken bringt das richtige Ergebnis. Diese Langsamkeit sichert berufliches Handeln.

 

Langsamer Denken heißt nicht langsam sein

Nur oberflächlich betrachtet ist dieser Prozess langsam. Tatsächlich wird die Zeitverzögerung wieder wett gemacht, weil Fehlinterpretationen und falsche Reaktionen vermieden werden. Das spart Geld und verhindert, je nach Arbeitsplatz, auch katastrophale berufliche Fehler.

Die vermeintliche Schwäche des unerfahrenen Mitarbeiters ist der Sicherheitsmechanismus für den „Könner“. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein neuer Mitarbeiter nur ein „teures Teammitglied“ ist. Im Gegenteil. Er kann Vorbild sein und damit ein wertvoller Akteur im Bereich der innerbetrieblichen Fehlerkultur.

 

Die Wiederentdeckung der Sorgfältigkeit

Das schnelle Denken ist uns angeboren. Der persönliche, bewusste Einfluss auf das dadurch ausgelöste Verhaltensmuster ist gar nicht so einfach herzustellen. Deshalb funktioniert die Orientierung am Vorbild von Kollegen in der Regel nur in Situationen, in denen wir unser Verhalten bewusst steuern können. In Stress, Eile oder in angstbesetzten Situationen greifen eher die angeborenen Verhaltensmuster. Das schnelle Denken behält die Kontrolle, wenn wir keine alternativen Routinen erlernt haben. Gerade aber schwierige Situationen erfordern die Ruhe für eine möglichst objektive Situationsanalyse. Es sind vor allem die komplexen, stressbeladenen Aufgaben, die unsere uneingeschränkte Sorgfalt brauchen. Es sind Situationen, in denen Fehler üblicherweise ein besonders hohes Schadensrisiko haben.

 

Stop-Prozeduren trainieren

Der Umgang mit diesen Situationen muss intensiv trainiert werden, damit das gelernte Verhalten stärker ist, als der angeborene Reflex des schnellen Interpretierens und Reagierens. Es gibt ein Hilfsmittel, das besonnenes Denken und Handeln unterstützt: Bevor zehn Minuten lang gehandelt wird, wird eine Analysezeit von zehn Sekunden eingehalten. In dieser kurzen Zeit gelingt es, eine Situationsanalyse und eine Planung für den nachfolgenden Arbeitsablauf zu fertigen. Diese zehn Sekunden helfen dabei, in den nächsten zehn Minuten besonnen vorzugehen. Zehn Sekunden Bedenkzeit ist eine Investition in ein optimales Arbeitsergebnis. Das gilt besonders in vermeintlich katastrophaler Zeitnot und Hektik. Dieser Trick wurde 2005 für das medizinische Notfallmanagement von Rall und Gaba 2005 in einen Merksatz gegossen (vgl. Rall M. & Gaba DM, in Miller´s Anesthesia, 6th Edition (2005)), der im Rahmen des Crisis Resource Managementsystems trainiert wird. Es genügen wenige Sekunden, um unser Gehirn zur wertvollen Langsamkeit zu bewegen. Auf dieser Basis wird auch in kritischen Situationen die richtige Einschätzung gewonnen. Danach kann rasch, effektiv und routiniert, in der vollen Kompetenz des Berufserfahrenen gehandelt werden. Das muss trainiert werden. Dieser Einsatz zahlt sich immer aus.